Dienstag, 6. Juni 2017

First Class

Ein Bekannter studierte vor vielen Jahren (na gut, Jahrzehnten) Physik und beklagte sich, sie müssten dermaßen hochgestochene Sachen berechnen, dass er sich darunter nichts mehr vorstellen könne. Naiv fragte ich, ob es sich um Formeln mit vielen Buchstaben handle. Und bekam zur Antwort: „Ich bin froh, wenn mal ein Buchstabe vorkommt! Unter einem Buchstaben kann ich mir ja wenigstens etwas vorstellen!“
Dieser Dialog fiel mir wieder ein, seit ich mich mit der Aufgabe konfrontiert sehe, zu ergründen, warum mir FIRST CLASS weniger einleuchtend erscheint als RUSSIAN RAILROADS. RUSSIAN RAILROADS wäre in meinem Gleichnis die Formel mit Buchstaben. FIRST CLASS ist noch mal eine Schippe Abstraktion obendrauf.


Wie geht FIRST CLASS? Man könnte es als RUSSIAN RAILROADS-Kartenspiel bezeichnen: Jeder Spieler baut mit Waggon-Karten zwei Züge. Durch jeden dieser Züge läuft ein Schaffner. Alle Waggons, die er erreicht, punkten in der Wertung. Waggons können mehrfach aufgewertet werden. In der niedrigsten Stufe zählen sie null, in der höchsten zwölf Punkte. Dieser Teil ähnelt dem Streckenbau in RUSSIAN RAILROADS: Die Waggons entsprechen den Gleisen, die Schaffner den Loks.
Auf einem zweiten Schauplatz (und analog zur Industrie bei RRR) verlängert jeder Spieler eine Bahnstrecke, auf der ein Zug fährt. Erreichte Felder geben entweder Punkte oder eine Zusatz-Aktion, die während jeder Wertung ausgeführt werden darf: Waggons werden angehängt oder aufgewertet, der Schaffner bewegt sich etc. Die beiden Schauplätze sind also miteinander verwoben.
Sechs Durchgänge werden gespielt, nach jedem zweiten folgt eine Wertung. In jedem Durchgang erhält jeder Spieler drei Karten aus einer Auslage. Reihum wird je eine Karte gewählt. Der Trick dabei: Verbleiben in einer Reihe des Kartenrasters nur noch eine bestimmte Menge Karten (abhängig von der Spielerzahl), wird die Reihe abgeräumt. Meine Wunschkarten könnten verschwinden, ohne dass ein anderer sie nehmen müsste. Ein einfacher und guter Dreh.
Die Karten bringen üblicherweise: Waggons, Waggon-Aufwertungen oder Schaffnerschritte, Zugstrecke oder Lokschritte. Zusätzlich sind immer auch die Karten-Sets von zwei Modulen im Spiel, die das Grundmuster des Spiels variieren.


Was passiert? FIRST CLASS erlebe ich als strenges Spiel ohne Redundanzen. Ich wählte 18 Mal eine Karte. Wenn ich gewinnen will, muss jede dieser Karten sitzen. Jeder Schaffnerschritt, den ich nicht ausführen kann, jeder Bonus, der verfällt, ist ärgerlich. Die perfekte Kartenwahl wird umso wichtiger, weil meine gesammelten Karten, wie in STONE AGE, zusätzlich in eine Schlussmultiplikation eingehen.
Durch ein geschicktes Wechselspiel von Schaffner und Lok lassen sich Kettenreaktionen mit beeindruckenden Effekten und Effekt-Effekten auslösen. Ein ehrgeiziger Spieler wird sich immer weiter verbessern. FIRST CLASS bietet wie RRR eine Spielwiese, um verschiedene Strategien auszuprobieren. Wobei der Begriff „Spielwiese“ hier für mein Empfinden weniger trifft. Denn es fühlt sich – und da bin ich nun wieder bei den Formeln ohne Buchstaben – weniger nach Spielen an.
Das liegt für meine Begriffe 1. daran, dass FIRST CLASS im Wesentlichen ein Kartenspiel ist, was das Thema noch mal weiter abstrahiert, während man in RRR immerhin noch greifbare Arbeiter, Ingenieure, Gleisteile hatte. 2. empfinde ich Strenge im Spiel als Lustkiller. Ich mag es lieber etwas redundanter, ich möchte nach Buchgefühl herumdaddeln und improvisieren dürfen. 3. ist die Phase, in der es am meisten abgeht, ausgerechnet die Verwaltungsphase.
Mit der Kartenauslage würde ich mich gern länger beschäftigen. Hier habe ich das Gefühl, dass ich mit den anderen am Tisch interagiere und spiele. Die Wertung allerdings, die jeder nacheinander für sich durchläuft und in der es üblicherweise zu imposanten Kettenreaktionen kommt, nimmt mindestens genauso viel Raum ein.

Was taugt es? Die Elemente, die mir in FIRST CLASS nicht so gefallen, sind zum Teil auch schon in RUSSIAN RAILROADS angelegt. Auch in RRR unterbrechen lawinenartige Kettenzüge den Spielfluss. FIRST CLASS verdichtet diese Effekte aber noch mal, ist noch abstrakter und wirkt für mich nicht mehr sehr spielerisch.
Weil die Redundanzen restlos herausgepresst wurden, geht FIRST CLASS im Regelfall etwas schneller als RUSSIAN RAILROADS, und dies ohne Substanzverlust. Die Weise, wie Aktionen kombiniert und optimiert werden, ähnelt sich sehr. FIRST CLASS ist wie ein RRR-Konzentrat. Sofern ich nicht in eine Grübelrunde gerate, würde ich FIRST CLASS auch stets mitspielen, denn zu probieren, was geht und was nicht geht, reizt mich schon. Dass fünf Module im Karton sind, die sich vielfach kombinieren lassen, ist für solche Herumprobierereien natürlich positiv. Aber deutlich lieber würde ich RRR spielen.


FIRST CLASS von Helmut Ohley für zwei bis vier Spieler, Hans im Glück.

1 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Sehr gute Beschreibung dessen, was ich bei diesem Spiel auch empfinde. Nur mein Fazit lautet anders: aber deutlich lieber als RRR und First Class würde ich was anderes spielen. Es gibt so viele Spiele auf ähnlichem Niveau, die Charme und Flair haben.

Micha A.

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