Der Zeitpunkt, um ein Spiel zu rezensieren, ist immer dann gekommen, wenn ich während der Partien keine neuen Erkenntnisse mehr gewinne. Die folgende Rezension bricht mit dieser Regel, denn noch immer vermag DAS TIEFE LAND mich mit neuen Wendungen zu überraschen. Und ich fürchte, das kann noch lange so gehen. Weil 2019 aber für eine Rezension arg spät wäre, kommt sie jetzt.
Wie geht DAS TIEFE LAND? Wir züchten Schafe. Dazu bauen wir Zäune für die Weiden und Gebäude mit Unterstellmöglichkeiten und hilfreichen Effekten. Die Schafe vermehren sich sechsmal im Spiel. Je größer meine Herde wird, desto mehr bin ich damit beschäftigt, Gebiete auf meinem Spielertableau einzuzäunen, um die ganzen Tiere unterbringen zu können.
Problem: Wir wohnen an der Küste. Bricht am Ende des Spiels der Deich, spült das Wasser Schafe weg. Je weniger ich beim Deichbau mitgeholfen habe, desto höher meine Verluste. Helfe ich deswegen beim Deichbau mit, fehlen mir aber Spielzüge und Ressourcen für die Schafzucht.
Dreimal pro Spiel wird der Deich geprüft, was Strafen oder Belohnungen nach sich zieht und die Endwertung beeinflusst. Je besser der Deich diesen Prüfungen standhält, desto weniger Punkte erhalten am Ende die Bauhelfer: paradox! Theoretisch will man also entweder kräftig am Deich bauen – aber er soll trotzdem brechen. Oder man kümmert sich nur um seine Schafe – und dank anderer Spieler soll der Deich halten.
Was passiert? DAS TIEFE LAND kommt wie ein typisches Rosenberg-Spiel daher, in dem es Arbeiterfiguren, Schafe, Rohstoffe und etliche Gebäude mit diversen Spezialitäten gibt. In meinen nur 18 Spielzügen bin ich zwischen vielen positiv erscheinenden Möglichkeiten hin- und hergerissen und weiß: Wenn ich x mache, verpasse ich y. Trotzdem spielt sich DAS TIEFE LAND nicht rosenbergisch. Ich optimiere und vermehre und wachse nicht ungestört vor mich hin, sondern bin abhängig.
Wieviel Wasser kommen wird, lässt sich anhand der Kartenrückseiten ein wenig im Voraus abschätzen. Ob der Deich dem standhält, weiß man selten. Es hängt vom Wollen der Spieler ab, das Wollen wiederum vom Vorhandensein passender Ressourcen-Karten. Manchmal hilft auch das Glück mit, indem ein Gebäude in den Markt gelangt, das – sofern gebaut – die erwartete Flutwelle abschwächt.
Ich bin also abhängig vom Kollektiv und vom Zufall, aber auch abhängig vom Einzelnen: Jede Aktion Deichbau zieht nach sich, dass der aktive Spieler einen anderen zum Mithelfen einladen muss. Wer da nun häufiger oder seltener beteiligt wird und nach welchen Kriterien, kann schon mal ungerecht sein. Manche Situationen fühlen sich auch wie Zwickmühlen an: Helfe ich beim Deich, rette ich dem größten Schafbauern den Arsch und er gewinnt. Helfe ich nicht, ertrinken auch meine Tiere und der, der seine Herde rechtzeitig in Geld umgesetzt hat, profitiert.
DAS TIEFE LAND spielte sich deshalb ungewöhnlich und speziell. Man hat weniger in der Hand, als einem Optimierer lieb wäre. Und wegen der paradoxen Punktwertung ist DAS TIEFE LAND obendrein unintuitiv. In vielen Situationen ist man unsicher, was wohl ein schlauer Spielzug sein könnte. Dass ich dieses Spiel liebe und mich darin vollkommen wohlfühle, kann ich wirklich nicht behaupten.
Aber: Dass sich ein Spiel mal konträr anfühlt und neue Erlebnisse beschert, dass es verblüfft und man sich an seinen Widerspenstigkeiten reibt, ist auch ein Qualitätsmerkmal – wenn das Spiel statt willkürlich stimmig ist. Und DAS TIEFE LAND ist stimmig.
Was taugt es? Nach den ersten Partien hätte ich gesagt: „Zu sperrig, um reizvoll zu sein.“ Inzwischen sage ich: „Zu originell, um nur solide genannt zu werden.“ DAS TIEFE LAND ist weiterhin nicht mein Wohlfühl-Spiel. Gleichzeitig lässt es mich auch nicht los, weil es üblichen Mustern zuwiderläuft und schwer zu beherrschen ist. Ich lerne noch in jeder Partie hinzu, entdecke interessante Gebäude-Kombinationen, probiere dies, probiere das und staune über Wendungen.
Die Unwägbarkeiten passen sehr gut zum Thema. Ebbe und Flut sind trotz menschlicher Bemühungen nie komplett beherrschbar. Den Deichbau als semikooperative Aufgabe umzusetzen, passt thematisch, fügt sich sehr gut ins Spiel ein und erzeugt dank der Wertung faszinierende Dilemmata.
DAS TIEFE LAND ist schön illustriert. Es hat allerdings gedauert, bis ich die Symbolik der Gebäudeplättchen verstanden habe. Und selbst jetzt, nach etlichen Partien, schlage ich beim Auftauchen vieler Gebäude lieber noch mal in die Regel nach, um ganz sicher zu sein, dass ich das Plättchen tatsächlich richtig interpretiere.
***** reizvoll
DAS TIEFE LAND von Claudia und Ralf Partenheimer für zwei bis vier Spieler, Feuerland.
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