Dienstag, 17. Februar 2015

Vor 20 Jahren (26): Halma

Einer meiner Jobs während meines Zuvieldienstes war das An- und Ausziehen von Stützstrümpfen, vornehmlich bei älteren Frauen. Bestimmte Muster wiederholten sich überall:

  • Die Damen waren völlig begeistert, dass für diese Verrichtung eigens junge Männer zu ihnen ins Haus kamen.
  • Die Damen fanden es äußerst bedauerlich, dass die meisten dieser jungen Männer lange Haare hatten.
  • Das reine An- oder Ausziehen der Strümpfe dauerte einen Bruchteil der Zeit, die insgesamt bei diesen Besuchen verstrich. Die Damen hatten nämlich einen enormen Erzählerdrang. Kein Wunder; sie waren einsam.
Eine von ihnen, nennen wir sie Frau Protkow, war sehr geschickt im Verhören der Haus- und Familienpflegerinnen und hatte deshalb viele pikante Details über die Sozialstation, deren Mitarbeiter und Patienten in Erfahrung gebracht – obwohl natürlich strikte Schweigepflicht herrschte. Besuche bei Frau Protkow waren deshalb auch für mich interessant, weil ich als Hiwi der untersten Hierarchiestufe (und auf Hierarchien legte man an meiner Station großen Wert) endlich mal erfuhr, was ich eigentlich nicht hätte erfahren sollen.

Ansonsten war Frau Protkow regelmäßige HALMA-Spielerin. Manchmal war ihre Tochter als Trainingspartnerin anwesend (warum ich an solchen Tagen trotzdem zum An- und Ausziehen der Strümpfe bestellt wurde, blieb mir ein Rätsel) und erzählte, dass „die Mutti“ sie jedes Mal schlage. „Aber manchmal schummelt sie. Da muss man aufpassen.“

Nach einigen Monaten hatte Herr Udo trotz langer Haare das Vertrauen seiner Patientin soweit gewonnen, dass sie ihn nach Feierabend zum Abendessen einlud.
Besonders amüsierte mich, dass die in der Hierarchie eigentlich über mir angesiedelte Familienpflegerin dafür eigens zum Einkaufen geschickt worden war. Es gab an diesem Abend leckere Schnittchen und superzuspätgelesenen Rotwein mit hohem Alkoholanteil. Und es wurde HALMA gespielt.

Ich war ganz sicher kein geübter HALMA-Spieler. Aber ich war ein geübter Spieler! Und meine Konkurrentin war über 90 Jahre alt! Und ich gab mir Mühe! Deshalb ging ich mit der Erwartung ans Brett, dass ich gewinnen würde.
Stimmte aber nicht. Frau Protkow baute sich in Windeseile unschlagbare Figurenketten auf, und ich konnte nur hinterherstaunen – auch weil die Hütchen so rasch gezogen wurden, dass man den genauen Weg kaum verfolgen konnte und sich vorkam wie beim professionellen Hütchentrickser. Nach wackerem Kampf brachte ich immerhin den Großteil meiner Gesellen ins Ziel und erntete das zweifelhafte Kompliment: „Sie spielen viel besser als meine Tochter!“

Frau Protkow war begeistert: Ein Gegner! Also wurde gleich noch eine Partie begonnen. Beeinträchtigt durch den schweren Alkohol klappte die Hütchen-Nummer meiner Spielpartnerin mittlerweile nicht mehr ganz so elegant. Mir fielen innerhalb der langen Kaskaden hin und wieder irreguläre Phantasiehüpfer auf. Ich protestierte, und murrend musste Frau Protkow ihren Zug dann zurücknehmen.
Doch genützt hat mir selbst das nichts. Sie spielte einfach besser. Chapeau! Vor 90 Jahren HALMA-Erfahrung muss selbst der beste Strumpfanzieher den Hut ziehen.

Vor 20 Jahren (25): Tichu
Vor 20 Jahren (27): Die Siedler von Catan

3 Kommentare:

Rodja Kleemann hat gesagt…

Hallo Udo,

nun hörst Du Chapeau von mir: Es ist immer wieder eine Freude Deine Artikel zu lesen - herrlich.

Der ungezwungene Schreibstil, die netten Anekdoten, die Ironie und der durchscheinende Humor machen das Lesen einfach immer wieder zu einem Vergnügen!

Bitte mach weiter so.

Liebe Grüße

Rodja

Anonym hat gesagt…

Ich schaffe es zwar nicht immer alle deine Blogeinträge zu verfolgen, aber wenn ich dazu komme werde ich nie enttäuscht. Vielen Dank für einen mal wieder herrlich amüsanten Eintrag!
Von der anderen Seite der Erdkugel,
Lisa

Anonym hat gesagt…

Ja, witzig-humorvoller und gleichzeitig warmherziger Text über das Spielen (ohne den Pathos, den warmherzige Texte, Filme schnell bekommen),
macht Spaß zu lesen. :)

Spielen geht mit alten und sehr alten Leuten eigentlich viel besser, als man manchmal erwarten würde, gerade wenn das Spiel schon bekannt ist.

SpaceTrucker

Kommentar veröffentlichen

Aufklärung über den Datenschutz
Wenn Sie einen Kommentar abgeben, werden Ihre eingegebenen Formulardaten (und unter Umständen auch weitere personenbezogene Daten, wie beispielsweise Ihre IP-Adresse) an den Google-Server übermittelt. Mit dem Absenden Ihres Kommentars erklären Sie sich mit der Aufzeichnung Ihrer angegebenen Daten einverstanden. Auf Wunsch können Sie Ihre Kommentare wieder löschen lassen. Bitte beachten Sie unsere darüber hinaus geltenden Datenschutzbestimmungen sowie die Datenschutzerklärung von Google.