Studieren im 18. Jahrhundert war offenbar genauso wie zu meiner Zeit (also kurz danach): Man stellt sich viele Bücher ins Regal. Davon, dass man sie auch noch lesen muss, war nie die Rede.
Wie geht NEWTON? Wir sind mit unseren Figuren auf zwei Spielplänen unterwegs. Der erste zeigt eine Europakarte, dort reisen wir entlang des Straßennetzes. Die Hälfte der erreichten Orte bringt Ressourcen oder andere Spielboni. Die andere Hälfte schaltet Plätze in unserem Bücherregal frei. Um beispielsweise unten links ein Buchplättchen platzieren zu dürfen, muss ich Stadt Nummer 1 bereist haben. Weil die Spielpläne variabel bestückt werden, kann Stadt Nummer 1 in der einen Partie Salamanca sein, in der nächsten Krakau.
Der zweite Spielplan zeigt eine verzweigte Wegestruktur mit sechs Ästen. Hier kann ich bis zu vier Figuren losschicken, jede muss ein anderes Zielfeld ansteuern. Unterwegs gibt es auch hier Spielboni und Ressourcen. Am Zielpunkt von vier Ästen schaltet man sich Schlusswertungen frei.
Warum will ich Buchplättchen ins Regal legen? Weil das extrem gebildet aussieht und am Ende jedes der sechs Durchgänge Punkte bringt. Aber nur wenn komplette Reihen oder Spalten gefüllt sind.
Die Spieleraktionen werden durch Karten ausgelöst, und jetzt kommt ein bisschen Deckbau. Jeder Spieler besitzt anfangs sechs Karten. Ihr Symbol zeigt, welche von fünf möglichen Aktionen er beim Spielen der Karte auslöst. Jede Karte bringt außerdem noch einen kleinen Nebeneffekt, beispielsweise etwas Geld. Eine der fünf Aktionen nennt sich „Lehrstunde“ und erlaubt, dass ich mir eine neue Karte aus dem Markt auf meine Hand nehme. Solche Karten bringen dieselben Symbole, aber stärkere Nebeneffekte.
Nachschub muss schon deshalb her, weil ich nach jedem Durchgang eine der gespielten Karten opfern muss. Ich kann sie nie wieder spielen und ihren Nebeneffekt auslösen. Aber: Sie wird so unter mein Tableau geschoben, dass ihr Aktionssymbol sichtbar bleibt. Und dieses Symbol zählt weiterhin bei der Berechnung mit, wie stark meine Aktion ist. Eine Aktion ist nämlich so stark, wie gleiche Symbole ausliegen. Entweder auf Karten, die ich zuvor gespielt habe, oder auf geopferten Karten oder auf Plättchen, die ich mir irgendwo als Dauereffekt besorgt habe.
Dass eine Aktion stärker ist, bedeutet zum Beispiel bei der „Lehrstunde“: Ich habe mehr Auswahl und darf auch eine der stärkeren Karten nehmen. Oder beim Herumreisen auf den Spielplänen: Meine Reichweite erhöht sich. Oder beim Platzieren eines Buchplättchens: Ich darf – sofern die Voraussetzung des Ablagefeldes erfüllt ist – auch die exklusiveren Regalreihen bestücken.
Was passiert? Das System von NEWTON ist so klar, dass nach dem Erklären kaum noch Nachfragen kommen. Auch beim Wiederspielen nicht. Mangone und Luciani haben ein stimmiges Gebilde geschaffen, das trotz seiner Komplexität schlank wirkt.
Die Anforderungen an die Spieler sind: 1. sich in der variablen Auslage zu orientieren. Wie muss ich Europa bereisen, um effektiv Regalreihen befüllen zu können? Welche Schlusswertungen sind im Spiel? Welche Spielweise legen sie nahe?
2. ein starkes Deck aufbauen. Die Nebeneffekte der zugekauften Karten sollten möglichst oft nutzbar sein und möglichst viel bringen. Außerdem will ich solche Karten aus meinem Deck entfernen, die ich einerseits nicht mehr brauche, deren Aktionssymbole ich aber gerne noch häufig mitnutzen möchte. Und weil ich nur Karten beerdigen darf, die ich im aktuellen Durchgang gespielt habe, sollte ich für die erwählte Opferkarte noch einen letzten sinnvollen Einsatz kreieren.
3. alles in möglichst wenigen Zügen und in der richtigen Reihenfolge abwickeln. Es geht um Tempo und Effizienz. Mit anderen Worten: Optimierung. Wer ein Feld vor dem angepeilten Ziel stehenbleibt oder sich die auf den Spielplänen verstreuten Plättchen mit Soforteffekten von den Gegnern wegschnappen lässt, spielt offenbar nicht optimal. Wie viel ein geübter NEWTON-Spieler herausholen kann, merkt man immer dann, wenn Anfänger auf der Punkte-Skala überrundet werden.
Weil die Aktionen an sich nicht kompliziert oder aufwendig sind, entsteht das Gefühl, ein sehr dichtes und gar nicht so schwieriges Spiel zu spielen. Sich zu entwickeln und zu wachsen, fühlt sich positiv an: Ah, noch eine tolle Karte kaufen! Ah, noch einen Bonus einheimsen! Ah, dasselbe Symbol noch mal spielen und die Aktion noch einmal stärker ausführen!
Nicht so positiv fühlt es sich an, wenn man merkt, man ist raus. Ist meine Strategie darauf angelegt, das Buchregal zu füllen, und ein anderer hat schon drei Buchplättchen mehr gelegt, dann weiß ich: Der wird besser abschneiden. NEWTON besitzt nur das Zufallsmoment, welche Karten wann in den Markt kommen; im Großen und Ganzen baut sich das Spiel Durchgang für Durchgang auf. Und wer sich in den ersten Durchgängen eine weniger gute Basis schafft, kann nicht auf glückliche Umstände hoffen, die das Blatt noch mal wenden.
Was taugt es? NEWTON ist also ein weiterer Euro-Optimierer, allerdings ein besonders guter. Den Autoren ist es gelungen, ein schlüssiges System mit klaren Stellschrauben zu erschaffen. Die Kombination aus Deckmanagement und Fortbewegung auf dem Spielplan harmoniert und reizt.
NEWTON verleitet dazu, mehr zu wollen, als möglich ist. Kann man nicht diesen Bonus auch noch mitnehmen und jene Schlusswertung freischalten? Alles wirkt so attraktiv! Aber leider hat man nur 30 Spielzüge. Wahrscheinlich ist es dies, warum ich von NEWTON nicht lassen kann: die Hoffnung, es beim nächsten Mal noch besser hinzukriegen.
NEWTON verschwendet keine Zeit mit Brimborium oder viel Verwaltung. Alle Elemente sind sinnvoll, weil sie dem Spiel nützen. Man kann gut vorausplanen, dennoch fühlt sich NEWTON nicht solitär an. Denn Karten und Soforteffekte schnappt man einander weg.
Auf BGG und anderswo gibt es Zweifel, wie ausgewogen NEWTON ist. Vor allem die Buchstrategie (mit dem Fokus, schnell die Regale mit Buchplättchen zu füllen) steht im Verdacht, zu stark zu sein. Das Spielertableau, das diese Strategie unterstützt, ist somit das beliebteste. Doch die Autoren widersprechen.
Und ich? Nach mittlerweile 25 bis 30 Partien (davon die Hälfte solo) glaube ich, dass die Buchstrategie tatsächlich im Durchschnitt mehr Punkte bringt. Allerdings ist sie kein garantierter Selbstläufer. Zunächst mal kommt es darauf an, diese Strategie überhaupt gut zu spielen. Und dann auf die Voraussetzungen: Wo liegen diesmal welche Plättchen? Welche Karten kommen wann in den Markt?
Auch mit anderen Strategien habe ich konkurrenzfähige Ergebnisse erzielt. Tatsache ist aber auch, dass ich mein allerbestes Ergebnis mit genau dieser Buchstrategie eingefahren habe. Und Tatsache ist ebenso, dass es mir weiterhin Spaß macht, NEWTON zu erforschen, zu experimentieren und meinen Score zu verbessern. Auch bei MARCO POLO oder DIE BURGEN VON BURGUND sind die Ausgangspositionen nicht exakt gleich stark. Trotzdem sind es tolle Spiele mit ähnlich starkem Noch-mal-Wunsch.
****** außerordentlich
NEWTON von Nestore Mangone und Simone Luciani für einen bis vier Spieler, Cranio Creations.
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