Montag, 15. Juni 2020

Crystal Palace

Hannover hat vor 75 Jahren Berühmtheit für seine Ruinen erlangt. Deshalb war es ein Coup, vor 20 Jahren auch noch die Weltausstellung nach Hannover zu holen. Lost-Places-Abenteurern hat sie manch faszinierendes Relikt hinterlassen.
Schon gewusst? In der guten, alten Zeit waren Weltausstellungen noch ganz anders.

Wie geht CRYSTAL PALACE? Weil Weltausstellung ist, erwerben wir Patent- und Personenkarten. Das kostet Rohstoffe und bringt Punkte und andere Boni.
Um diesen schon vielfach anderswo gespielten Kern herum versammelt CRYSTAL PALACE noch diverse weitere Mechanismen. Am auffälligsten: der Aktionsmechanismus. Wir betreiben Worker Placement mit Würfeln. Anfangs besitze ich vier Würfel, zu Beginn jeder Runde stelle ich geheim beliebige Augenzahlen ein. Eine hohe Augenzahl bedeutet, dass mein Würfel an Aktionsorten früher zum Zuge kommt. Zusätzlich ist auf den meisten Feldern für das Einsetzen ohnehin eine bestimmte Mindestzahl die Voraussetzung. Allerdings kostet jedes Auge Geld. Und Geld ist – was sonst? – knapp.
CRYSTAL PALACE ist ein ziemlich gemeines Spiel. Irgendwo einen Würfel einzusetzen, bedeutet nicht, die Aktion garantiert zu bekommen. Die Tableaus haben mehr Einsatzfelder, als tatsächlich Aktionen zu vergeben sind. Wer mittels höherem Würfel noch überboten wird, guckt in die Röhre.
Auch auf dem Schwarzmarkt-Tableau kann es unangenehm werden. Hierhin entsandte Figuren empfangen Runde für Runde ein Einkommen – außer der letzte Schwarzmarkt-Platz wird besetzt. Dann fliegen alle Figuren raus mit Ausnahme derer, die zuletzt kam.


Was passiert? In CRYSTAL PALACE brennt es an allen Ecken und Enden. Vier Würfel genügen nicht, um alles abzudecken, was ich gerne tun würde. Man kann Würfel hinzugewinnen, aber tun das alle, entsteht Inflation: Auf dem Spielplan wird es immer enger und die Kosten steigen, ohne dass man unbedingt mehr dadurch erreicht.
Zur Illustration ein paar typische Probleme: Die hilfreichen Personen kosten viel Unterhalt. Der sinkt üblicherweise, wenn ich Aktionen verwende, um auf der Westminster-Skala voranzuschreiten. Am Ende der Runde erhalten wir ein Einkommen. Allerdings sinkt das Einkommen dramatisch, sofern man nicht vorbeugend auf dem Bank-Tableau agiert.
Zwei Würfel wären damit verbraucht. Aber zusätzlich muss man ja auch noch Rohstoffe holen. Und die Karten, die mit den Rohstoffen aktiviert werden sollen. Und jedes Spielertableau hat zehn hässliche Felder, die – sofern bei Spielende noch leer – Minuspunkte zählen. Also will man Forschungsplättchen, um diese Lücken zu füllen. Und und und ... Und all dies irgendwie gleichzeitig.

CRYSTAL PALACE erfordert, dass wir genau rechnen und kalkulieren, um nicht die paar Rohstoffe und Würfel und Geldreserven zu verplempern, die wir überhaupt besitzen. Vor allem mit den Würfeln wird herumtaktiert, um bloß keine Fehler zu machen. Nachdem die Würfelaugen geheim eingestellt wurden, liegen die Würfel offen. Die Einsetzphase ist deshalb sehr interaktiv.
Ahne ich, auf welche Aktionen meine Mitspieler*innen aus sind, kann ich auch mal irgendwo billig abstauben. Ahne ich es nicht, halte ich meine Würfel-Vier, wenn noch zwei fremde Fünfen drohen, wohl lieber zurück und warte ab. Es kommt darauf an, auch mal flexibel umzuplanen, wenn das ursprüngliche Anliegen nicht klappt oder zu riskant erscheint. Und es gilt, Chancen zu ergreifen. Beispielsweise kann ich niedrige fremde Würfel aussperren, indem ich gezielt solche Felder freilasse, die mit diesen Würfeln nicht besetzt werden dürfen.


Was taugt es? Ich habe lange gezögert und bin mir immer noch nicht sicher, ob ich CRYSTAL PALACE nun „reizvoll“ oder „solide“ finde. Ich wähle wegen des spannenden und originellen Würfelmechanismus die höhere Wertung. Loben möchte ich obendrein, wie sorgfältig CRYSTAL PALACE auf zwei, drei, vier und fünf Personen abgestimmt ist und wie gut wir mittels Spielaufbau und gelungener Symbolik durch die Partie geleitet werden.
Allerdings: Das Thema Weltausstellung geht in CRYSTAL PALACE trotz schöner Illustrationen komplett verloren. Etliches im Spiel erscheint mir unnötig detailliert und hakelig. CRYSTAL PALACE beschäftigt mich mit Dingen und Boni und Wechselbeziehungen, die für mein Gefühl gar nicht wichtig sind und das Spiel in erster Linie komplizierter statt besser machen. Ich empfinde keinen gesteigerten Spielreiz, indem Patentkarten neben Punkten oft auch einen diffusen Mix aus Positiv- und Negativeffekten mitbringen oder indem einige Personenkarten dem Gehalts-Schema zuwider laufen, weil ihr Unterhalt steigt statt sinkt, wenn ich auf der Westminster-Skala voranschreite.
CRYSTAL PALACE spielt sich sehr vertrackt. Wer verliert, hat hinterher oft keine konkrete Idee, woran es gelegen haben und was man beim nächsten Mal anders und besser machen könnte. Ein klareres Design hätte meine Entscheidung für „reizvoll“ klarer ausfallen lassen.


***** reizvoll

CRYSTAL PALACE von Carsten Lauber für zwei bis fünf Spieler*innen, Feuerland.

1 Kommentare:

gutzumerken hat gesagt…

Schöne Rezension, die einen guten Einblick in die Mechaniken, Entscheidungen, Stärken und mögliche Schwächen des Spiels gibt!

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