Um Mozarts letztes und unvollendetes Werk, das Requiem, entstanden zahlreiche Legenden. LACRIMOSA kreiert eine weitere. In der Einleitung heißt es: „Seine Witwe Constanze hat beschlossen, bis zu vier der großzügigsten Mäzene des verstorbenen Komponisten zu kontaktieren, damit sie ihr dabei helfen, die richtigen Komponisten zu beauftragen, um das Werk zu vollenden. Dieses Spiel erzählt die Geschichte dieser Treffen, die Constanze (möglicherweise) mit Mozarts Mäzenen nach seinem Tod hatte.“ Das Zauberwort hier ist „möglicherweise“. Denn so war es nun mal nicht. LACRIMOSA „erzählt“ nicht „die Geschichte“, sondern erfindet etwas, um irgendwie bis zu vier Spieler:innen (als Mäzene) in das Geschehen hineinzustricken.
Wie geht LACRIMOSA? Jede:r startet mit demselben Kartendeck. Die Karten zeigen oben eine Aktion und unten ein Einkommen bei Rundenende. In jedem Zug stecke ich eine Karte in den oberen Slot und eine in den unteren Slot meines Tableaus. Bei der oberen Karte ist nun nur noch die Aktion sichtbar, und ich führe sie aus. Bei der unteren ist nur das Einkommen sichtbar. Bei beiden Karten wähle ich also eine von zwei Anwendungsmöglichkeiten und verzichte gleichzeitig auf die andere.
LACRIMOSA hat einen Deckbuilding-Aspekt: Im Laufe des Spiels kommen immer mächtigere Karten ins Spiel. Ich kann sie erwerben und dafür eine meiner vorhandenen Karten verschrotten. LACRIMOSA hat auch einen ökonomischen Aspekt: Neben Geld gibt es noch drei weitere Währungen. Für Fortschritte muss ich bezahlen, und natürlich muss ich mit meinen Ressourcen haushalten.
LACRIMOSA hat Wettrenn-Komponenten: Wer Komponisten-Plättchen zuerst kauft, bekommt sie billiger und nimmt anderen die Plätze weg. Außerdem reisen wir mit einer gemeinsamen Figur über den Spielplan, immer auf der Jagd nach vorteilhaften Plättchen, die in den europäischen Städten ausliegen.
Und wir betreiben in LACRIMOSA Engine-Building, indem wir uns mit Opus-Karten eine Punktemaschine aufbauen. Opus-Karten kommen nicht in mein Deck, sondern werden vor mir ausgelegt. Diese Werke kann ich später mehrmals aufführen (tappen) und bekomme jeweils etwas dafür. Im Bestfall habe ich mir Boni freigeschaltet, die ich zusätzlich erhalte, wenn ich eine ganz bestimmte Sorte Werk aufführe, die ich mir natürlich gezielt besorgt habe. Und vielleicht besitze ich obendrein das Privileg, dass ich, wenn ich aufführe, gleich noch mal aufführen darf.
Mit anderen Worten: LACRIMOSA ist ein vielfach verzahntes Eurogame mit diversen Mechanismen und Möglichkeiten, an Punkte zu kommen. Und wer am meisten Punkte hat, gewinnt und geht als bedeutendster Mäzen Mozarts in Constanzes Memoiren ein. Jedenfalls ist das noch die Aussage auf Seite 2 der Anleitung. Auf Seite 10 scheinen die Memoiren schon wieder in Vergessenheit geraten zu sein, und dass es ganz ursprünglich darum gehen sollte, das Requiem zu vollenden, ist sowieso kein Thema mehr. Jetzt heißt es: „Siegpunkte (SP) sind ein Indikator dafür, wie sehr sich Constanze für eure Erzählungen begeistert. Je mehr SP du erzielst, umso imposanter wird dein Wirken in der ersten Mozart-Biografie dargestellt.“
Was passiert? Die Story hakt an allen Ecken und Enden. Mal abgesehen davon, dass sie die Historie verdreht, unterstützt sie auch nicht das Spiel, sondern erschwert im Gegenteil dessen Verständnis. Eine Karte fürs Deck zu kaufen, nennt sich „Erinnerungen aufschreiben“. Das ist Quark, denn man schreibt nichts auf. Leider muss man es trotzdem wissen, denn das Symbol für den Kartenkauf zeigt ein Tagebuch und eine Kerze. Und wer käme schon darauf, dass Tagebuch und Kerze für das Kaufen einer Karte stehen? Und unglücklicherweise ist das Symbol für „Opus in Auftrag geben“ Schreibfeder und Papier. Bis zum Ende der Partie wird das immer wieder mit „Erinnerungen aufschreiben“ verwechselt. Begriffe und Symbole sind in LACRIMOSA schlecht gewählt. Die Benennungen und die Optik sollen ein Thema vortäuschen, LACRIMOSA ist aber nicht thematisch. Und so wird durch die Einkleidung alles nur verkompliziert.
Das Spiel selbst ist durchaus ordentlich: Die Mechaniken sind konstruktiv. Man entwickelt sich, baut sich etwas auf. Man kann taktisch und strategisch agieren. Das alles sind Elemente, die sich generell gut anfühlen. Detaillierter will ich das gar nicht beschreiben, denn: LACRIMOSA hat auf der anderen Seite nichts, das sich irgendwie außergewöhnlich anfühlt. Es ist solide komplexe Eurokost.
Was taugt es? Außergewöhnlich an LACRIMOSA ist nur das Thema. Und das Thema trägt nicht. Ich behaupte sogar: Ein Standardszenario, bei dem wir Waren ausliefern und Handelsverträge erfüllen, um am Ende als bedeutendste Kaufleute in die Geschichte einzugehen, hätte hier vieles besser erklärt.
Letztendlich ist LACRIMOSA aber nicht schlechter als andere seelenlose Mechanikspiele. Und denen kreide ich ihr seelenloses Thema ja auch nicht an. Wenn man also einfach vergisst, dass es hier um Mozarts letztes Werk gehen soll (und man vergisst es sehr schnell), bleibt ein Spiel übrig, das über seine gesamte Dauer gut unterhält und herausfordert.
Herausgefordert war ich übrigens auch durch die Anleitung. Vielleicht bin ich schlichtweg alt geworden. Oder (und das wäre tendenziell meine Haupttheorie) die Anleitung ist schlichtweg schlecht strukturiert.
**** solide
LACRIMOSA von Gerard Ascensi und Ferran Renalias für eine:n bis vier Spieler:innen, Kosmos.
1 Kommentare:
Wir werden alle älter. Aber die Anleitung ist wirklich ziemlich konfus. Hatte das schon auf Englisch und hätte erwartet, dass die deutsche Anleitung neu strukturiert wird - wurde sie aber leider nicht.
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