Als ich mir vor x Jahren ausgedacht habe, wie meine Wertungen heißen sollen, erschien mir das Label „solide“ wie eine sichere Bank. „Solide“ kennt jede:r, es ist so etwas wie: im Großen und Ganzen okay … aber vielleicht nicht besonders genug.
Je länger ich nun diesen Nischenblog betreibe, desto häufiger fällt mir auf, dass „solide“ im Sinne von „mittel +“ zwar das Ausmaß meiner Wiederspiellust treffend beschreibt, aber einigen Spielen nicht gerecht wird. Manche haben echte Schnitzer, sind handwerklich also das Gegenteil von „solide“ – und diese Schnitzer verleiden mir das Gesamtwerk so sehr, dass ich „reizvoll“ als zu hoch empfinde und mangels Alternativen auf „solide“ ausweiche.
Andere sind das Gegenteil von „nicht besonders genug“. Sie sind geradezu besonders besonders ... aber trotzdem nicht rundum reizvoll. Und jetzt bin ich bei FORGOTTEN WATERS angelangt, das nicht „solide“ ist, aber „mittel +“, und deswegen steht „solide“ drunter. Äh … ja.
Wie geht FORGOTTEN WATERS? Wir sind Pirat:innen und erleben Abenteuer. Fünf Szenarien gibt es. In jedem verfolgen wir ein gemeinsames Spielziel, vielleicht müssen wir einen Feind jagen und besiegen. Darüber hinaus arbeiten wir (kompetitiv) an unserer individuellen Vervollkommnung, wofür wir möglichst viele oder noch besser alle Felder auf dem eigenen Sternbildbogen ausmalen müssen.
Welche Aktionen das eigene Sternbild voranbringen, lässt sich recht gut erahnen. Manchmal sind dies aber nicht die Aktionen, die die Gruppe voranbringen, woraus ein Konflikt zwischen Gemein- und Eigennutz entstehen kann.
Gespielt wird in einem 80 Seiten dicken Ringbuch. Jeder Spielzug findet auf einer Doppelseite statt, die beispielsweise „Ruhige See“ heißen kann und ein entsprechendes Bild zeigt. Zwischen bis zu sieben Aktionen dürfen wir nun wählen. Sie stehen auf der rechten Buchseite und lauten etwa „Speerfischen“, „Segel setzen“ oder „Quartier des Captains“.
Manche Aktionen sind verpflichtend; irgendwer muss sie ausführen. Oft sind genau diese Aktionen aber nicht so attraktiv und bleiben an der Person hängen, die zuletzt zieht. Die Zugreihenfolge wiederum richtet sich nach unserem Ruf.
Beim Ziehen sollten wir uns übrigens beeilen. Überschreiten wir den vom Rundentimer gesetzten Zeitrahmen, werden wir bestraft. Und die Ausführungstexte, die rechts neben den Aktionen stehen, sollen wir bitte nicht vorab lesen, sondern uns überraschen lassen.
Viele Spielzüge laufen auf Würfelproben hinaus. Je höher man würfelt, desto besser schneidet man ab. Gesammelte Gegenstände und persönliche Charakter-Fortschritte modifizieren diese Proben. Oft – und für diesen Teil benötigt man Internetanbindung – muss auch ein längerer Text verlesen werden. Seit wenigen Wochen gibt es eine professionelle deutsche Sprachausgabe, und man kann vorlesen lassen.
Was passiert? Wir schlagen uns so durch und erleben, was Gesetzlose auf hoher See so erleben. Nur skurriler. Witziger. Durchgedrehter. Die Texte sind sehr gekonnt verfasst; schwarzer Humor trifft auf Nonsens, Trash und wohldosierte Geschmacklosigkeiten. Man fühlt sich an Monty-Python-Komik erinnert.
Dass FORGOTTEN WATERS nicht zu ernst genommen werden möchte, erfahren wir schon bei Spielbeginn, wenn ein individueller Lückentext auszufüllen ist. Um die Vorgeschichte meines Charakters zu erfahren, soll ich Dinge wie „etwas Widerliches“ oder „eine erfundene Foltermethode“ benennen, ohne zu wissen, worum es geht. Diese Begriffe werden dann in meine vorzulesende Biografie eingeflochten, was hin und wieder schöne Lacher erzeugt.
Spielerisch ist FORGOTTEN WATERS in seichten Gewässern unterwegs. Selten sind taktische Entscheidungen zu treffen, häufiger thematische, den Rest erledigen die Würfel. Es passiert halt irgendwas. Es hat mit Seefahrt zu tun. Und es unterhält.
Was taugt es? Dass sich ein Spiel so wenig ernst nimmt, ist ungewöhnlich und erfrischend und gefällt mir gut. FORGOTTEN WATERS beschert sinnfreie Stunden, in denen man sich um viele Dinge keine Gedanken machen muss, die in anderen Spielen wichtig sind. Das Thema trägt super. Das leicht Anarchische passt perfekt.
Ich würde FORGOTTEN WATERS lieben, wären da nicht noch andere Faktoren. Für mein Empfinden will das Spiel zu viel gleichzeitig. Ein Trash-Spiel, das die üblichen Erwartungen persifliert und auf „Würfle die richtige Zahl“ hinausläuft, hätte ich völlig okay gefunden. Aber FORGOTTEN WATERS setzt zugleich auf fortlaufende Geschichten, die sich sehr in die Länge ziehen. Vier Stunden sollte man einplanen, und so witzige Details und Formulierungen es auch immer wieder gibt: Die Plots sind nicht besonders neuartig oder faszinierend. Ich war bei keiner Story gespannt, wie sie ausgeht. Die seelischen Nöte unseres Captains haben mich kalt gelassen, und ich habe mich auch niemals mit meiner Figur identifiziert.
Größtenteils ist FORGOTTEN WATERS ein Nonsens-Hörspiel, an dem man sich durch Aktionswahl oder Würfeln gelegentlich beteiligen darf. Zugleich soll es offenbar trotzdem ein „richtiges“ Spiel sein. Jedenfalls bedient es sich einiger Elemente, die man aus vielen anderen Abenteuerspielen kennt, das Besondere an FORGOTTEN WATERS jedoch verwässern: In manchen Partien kamen so viele verschiedene Karten mit Texten und Modifikatoren ins Spiel, dass man teilweise den Überblick über all das verlor. Um im Endkampf gibt es langwierige Würfelduelle ohne Finesse.
Wegen der Pandemie musste ich FORGOTTEN WATERS in kleiner Besetzung spielen. Dabei fiel obendrein negativ auf, dass der Ruf-Reihenfolge-Mechanismus für ein Spiel mit vielen ausgelegt ist und zu dritt nicht recht taugt.
**** solide
FORGOTTEN WATERS von Issac Vega, J. Arthur Ellis, Mr. Bistro für drei bis sieben Spieler:innen, Plaid Hat Games.
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