Literarische Themen geben Spieleautor:innen einen engen Rahmen vor. Welche Geschichte ist zu erzählen? Welche Protagonistinnen sollen vorkommen? Was sind die Leitmotive? Wie ist der Geist des Ganzen? Dem gerecht zu werden, ist sicher nicht leicht.
Man kann sich das vereinfachen und den Literaturbezug im Wesentlichen optisch herstellen: Man nimmt einen vielfach bewährten Mechanismus, der sich halbwegs erklärbar mit dem Buchgeschehen verknüpfen lässt, und pflastert Karten / Meeple / Chips mit all den Charakteren aus dem Buch voll. Im Bestfall kommt trotzdem ein gutes Spiel dabei heraus.
Aber gewiss kein hervorragendes. Als Krönung des Genres empfinde ich ein Spiel, das nicht nur gut ist, sondern zugleich derart eng auf die Literaturvorlage zugeschnitten, dass es tatsächlich nur zu diesem einen Werk passt und zu keinem anderen sonst. Solche Spiele sind rar – weil Qualität immer rar ist. Aber wie ich vor rund einem Jahr geschrieben habe: Reiner Knizia hat mit DER HERR DER RINGE ein genau solches Spiel geschaffen.
Nun die Neuigkeit gegenüber damals: Reiner Knizia hat ein weiteres solches Spiel geschaffen! Auch dieses ist wieder angelehnt an die Tolkien-Geschichte, jedoch abstrakter und für nur zwei Personen. Es heißt: DER HERR DER RINGE – DIE ENTSCHEIDUNG und ist im deutschsprachigen Raum für meine Begriffe total unterschätzt.
In Kurzform könnte man das Spiel als asymmetrisches STRATEGO beschreiben: Wir laufen mit Figuren aufeinander zu und eliminieren uns gegenseitig. Um welche Gegnerfigur es sich handelt, erfahre ich erst, wenn eine meiner Figuren mit ihr zusammentrifft. Ein Stärkevergleich aus Figurenwert plus simultan gespielter Handkarte entscheidet über den Kampfausgang.
Eine Seite spielt die Gemeinschaft des Rings, die andere Seite das Gefolge Saurons. Und schon mit geringen mathematischen Kenntnissen stellt man fest: Die Figuren der Ringgemeinschaft sind total schwach, die der Gegenseite total stark! Sauron entgegenzutreten, ist also ein ziemliches Himmelfahrtskommando, eine völlig idiotische Idee.
Aber was passiert im Buch? Genau das. Sie tun es. Und sie tun es erfolgreich. Und wie dies gelingen kann, leitet DER HERR DER RINGE – DIE ENTSCHEIDUNG schlüssig her. Die Ringgemeinschaft hat nämlich einen, auf den allein es ankommt: Frodo. Seine Figur muss das hinterste Feld (Mordor) erreichen. Die anderen Figuren sind dazu da, um abzulenken, sich in die Bresche zu werfen, Frodo Zeit zu verschaffen. Ob sie geschlagen werden, ist egal.
Die Sauron-Partei freut sich über jede Figur, die sie eliminiert. So wird immer klarer, welche Figur Frodo ist. Nur darf sie sich nicht ausmanövrieren lassen; der bewegliche Frodo darf nicht durch die Reihen schlüpfen. Das ist trotz Überlegenheit die Gefahr. Das gegenseitige Abtasten und Weghauen erhält noch ein starkes Bluffmoment durch die Karten (die Decks sind ebenfalls asymmetrisch) und taktische Möglichkeiten durch die verschiedenen Figureneigenschaften, die wiederum absolut stimmig mit der Geschichte harmonieren.
Vielleicht gab es im Zuge der Verfilmungen vor 20 Jahren ein Übermaß an Herr-der-Ringe-Spielen. Anders kann ich mir nicht erklären, warum dieses Meisterwerk vielfach nicht als das erkannt wurde, was es ist.
- Vor 20 Jahren (112): Biberbande
- Vor 20 Jahren (114): Trans America
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