Samstag, 23. Juli 2022

Golem

Der Sage nach wurde der Golem in Prag erschaffen. Sehr wirklichkeitsgetreu also, dass er in einem Eurogame mitspielt.

Wie geht GOLEM? Alle wollen Punkte. Ich auch. Auf meinem Tableau gibt es drei Farbbereiche, in denen ich verschiedene Errungenschaften freischalte und damit gleichzeitig meine Faktoren für die Schluss-Punktemultiplikation erhöhe. Beispiel: Im roten Sektor kann ich bis zu vier Golems erschaffen. Ihre Anzahl ist der erste Multiplikator. Und ich kann meinen Golems spezielle Eigenschaften verleihen. Jede davon zählt zum zweiten Multiplikator. Vier Golems mal fünf Eigenschaften wären 20 Punkte. (Verkürzt gesagt.)
In Wahrheit ist es verwobener und komplizierter. Denn GOLEM ist ein gehobenes Eurogame. Die anderen beiden Bereiche folgen also komplett anderen Regeln. Und zu den drei Schlussmultiplikationen addieren sich noch Punkte für erledigte Zielkarten. Und Punkte, die ich während der Partie sammle. (Wieder verkürzt gesagt.)
Die thematische Grundidee von GOLEM besteht darin, dass Golems einerseits sehr arbeitssame Wesen sind. Es lohnt sich, welche zu haben. Sie stürmen auf drei Farbstraßen (korrespondierend zu den Bereichen meines Tableaus) vorwärts, und je weiter sie laufen, desto bessere Aktionen können sie ausführen. Andererseits sind Golems schwer zu kontrollieren: Je weiter sie meinen Studentenfiguren enteilen, desto kostspieliger wird dies für mich.

Der Basismechanismus wiederum ist eine Mischung aus Aktionswahl und Personaleinsatz. In jeder der vier Runden habe ich ganze drei Aktionen. Eine führt mein Rabbi aus, indem ich ihn auf eins der in jeder Runde wechselnden Einsetzfelder entsende. Für die anderen beiden werden bei Rundenbeginn Murmeln in einen Schacht geworfen. Zufällig verteilt kommen sie in fünf verschiedenen Bahnen heraus. Jede Bahn steht für eine andere Aktionsmöglichkeit. Je mehr Murmeln in der Bahn liegen, desto stärker die Aktion. Um die Aktion zu nutzen, entnehme ich eine Murmel und schwäche damit die Aktionen meiner Nachahmer:innen. Ob ich erst eine Murmel nehme oder erst den Rabbi einsetze (und damit Felder blockiere), ist mir überlassen.


Was passiert? Aktionen sind üblicherweise mehrteilig. Sonst würde man bei nur zwölf Aktionen auch kaum vorankommen. Beispielsweise bewirkt eine Murmelaktion in Bahn zwei, dass ich zunächst so viel Lehm erhalte, wie dort Murmeln liegen. Anschließend darf ich unter Bezahlung von Lehm eine Golem-Eigenschaft freischalten, dann unter Bezahlung von weiterem Lehm einen Golem erschaffen und auf einer der Straßen einsetzen.
Und wenn meine Golems bereits die Eigenschaft besitzen, dass Neugeborene sofort losrennen und arbeiten, dann wird dies ausgelöst, und die Arbeitsaktion des Golems verlängert meinen Zug um weitere Ketteneffekte.
Übrigens sind die Murmeln auch farbig. Und wenn ich die in der laufenden Runde geforderte Farbkombination einsammle, erhalte ich einen Bonus. Und die Farbe bestimmt obendrein, ob und welche meiner Studenten vorwärtslaufen.
Und wenn die gewünschte Farbe nun in eine unerwünschte Aktionsbahn gerollt ist, verursacht das ein Dilemma: Ist mir die Farbe wichtiger oder die Aktion? Oder gehe ich sowieso rein nach der Menge der Murmeln?
Weil es ertragreicher wäre, in zwei der Finalwertungen hohe Faktoren zu multiplizieren als in drei Wertungen mittelmäßige, empfiehlt sich eine gewisse Spezialisierung. Auch weil Effekte stärker sind, wenn ich einen Farbbereich schon gut ausgebaut habe. Andererseits kann sich allzu strikte Einengung rächen. Und so ist es wie so oft: Ich will alles und ich will es gleichzeitig, und ich muss mich pro Runde für gerade mal drei der vielen verlockenden Angebote entscheiden.


Was taugt es? Ein neuartiges Spielgefühl kreiert GOLEM nicht. Das, was hier reizt und herausfordert, ähnelt dem, was in vielen komplexen Eurogames reizt und herausfordert. Aber um tatsächlich zu reizen und nicht zu nerven oder sich wie Arbeit anzufühlen, benötigen Spiele dieser Art eine gewisse Stringenz und Eleganz. Eine Fokussierung. Und am besten eine Leitidee.
Bei aller Verschnörkelung: GOLEM hat dies. Selbst wenn ich noch nicht den Gesamtkomplex überblicke, habe ich stets klare Ziele vor Augen, eine Aufgabe, die ich mir setze. Bücher zu horten, wäre ein mögliches Projekt. Sie schütten Ressourcen aus und initiieren Aktionen. Am besten sammle ich gleichfarbige. Denn jedes, das zu seiner Farbe hinzukommt, aktiviert alle anderen derselben Farbe noch einmal. Um aber überhaupt mehrere Bücher derselben Farbe nehmen zu dürfen, muss ich zuerst auf meiner Forschungsskala voranschreiten … Die Realisierung ist komplex, der Plan dennoch klar. Und auch belohnend, weil jeder Teilschritt irgendwelche Vergütungen einbringt.
Nicht leugnen lässt sich, dass GOLEM ein ziemliches Gerechne ist. Grad habe ich mir was ausgedacht, lege los und plötzlich fehlt ein Geld, ach, dann mache ich den Zug doch lieber anders und kaufe erst dies, dann kriege ich das, ach nee, jetzt fehlt ein Wissen … Moment, wenn ich aber vielleicht … äh, darf ich noch mal von vorn anfangen? Wer intensiver denkt und besser optimiert, wird erfolgreicher abschneiden als Personen, die keine Lust haben, langwierig auszutüfteln, ob sich aus ihrem Zug noch fünf Prozent mehr herausholen ließen.
Aber obwohl – zumindest bei mir – am Ende der Partie stets das Gefühl bleibt, das Optimum mal wieder verfehlt zu haben, bietet GOLEM genügend Motivierendes und auch Abwechslung über mehrere Partien hinweg. Es gibt etliche Stellschrauben, um sie beim nächsten Mal anders zu drehen und zu schauen, was das denn bewirkt.
GOLEM ist spielerisch, weil es mich experimentieren lässt. Es ist konstruktiv, weil ich versuche, eine Gesamtmaschinerie ins Laufen zu bringen, und auch tatsächlich Fortschritte erlebe. Es ist mehr ein Spiel der Möglichkeiten, weniger der Strafen und Verbote.
Redaktionell gibt es Schwächen. Die Murmelbahn etwa. Der Pappaufbau, in den wir die Murmeln einfüllen, nimmt viel Platz weg, versperrt die Sicht und besitzt nicht mal eine Zufallsmechanik, um die Murmeln auf die Bahnen zu verteilen. Werfe ich alle Murmeln an derselben Seite rein, werden sie auch größtenteils an derselben Seite herauskommen. Mit Würfeln hat Yukon Airways einen sehr ähnlichen Mechanismus weitaus besser umgesetzt.
Die Farbgebung des Spielplans ist uneindeutig und somit misslungen. Und denkt man nach dem Regelstudium zunächst, alles sei geklärt, tauchen während der Partien dann doch immer wieder Fragen auf, die nicht zweifelsfrei beantwortet werden. Wichtiges geht in der Anleitung von GOLEM unter. Beispielsweise hatte ich in den ersten Partien den klein gedruckten, aber trotzdem entscheidenden Grundsatz übersehen, dass man alle Boni auch nur teilweise nehmen oder auch darauf verzichten kann.
Originell ist GOLEM nur in Details, nicht in der Gesamtanmutung. Es fehlt die ganz große Innovation. Dennoch empfinde ich es in seiner gelungenen Verzahntheit und klaren Struktur als etwas stärker als nur solide. An GOLEM möchte ich noch eine Weile dranbleiben und Dinge probieren.


***** reizvoll

GOLEM von Virginio Gigli, Flaminia Brasini und Simone Luciani für eine:n bis vier Spieler:innen, Cranio Creations.

2 Kommentare:

Jost aus Soest hat gesagt…

"komplett an den Regeln"? 🤔

Udo Bartsch hat gesagt…

Eigentlich wollte ich "komplett anderen Regeln" schreiben. Danke für den Hinweis. Ist geändert.

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