Ist ja bald wieder Spielemesse in Essen. Dora wird schon ganz nervös. Hat sie doch gesagt: Jetzt kommt die Zeit, woste dich mit Nachbar Heinz immer im Keller im Hobbyraum an die Theke verkriechst und über ellenlange Spielelisten brütest, seitenweise Spielregeln aus dem Internetz ausdruckst und fast stündlich den Kontostand von unsere Giro kontrollierst. Hat se ja irgendwie Recht, die Dora. Aber man muss ja gut informiert sein, was so an Neuheiten kommt und ob man sich die geschätzten 175 interessanteren Neuheiten auch leisten kann. Letzteres ist dann allerdings nur eine rhetorische Frage. Im Notfall heißt es: Muss ja! Das liegt einerseits daran, dass man viele Spiele einfach haben muss, auf der anderen Seite darf man auch nichts verpassen. Musste halt beides berücksichtigen. Geht nicht anders. Das muss Dora dann auch mal einsehen.
So geht es dann also mit seitenlanger Check-Liste frühmorgens los. Wir nehmen immer den alten Benz von Nachbar Heinz, der beim Anlassen so stottert. Also, das Auto meine ich. Ist immer ein gewisses Risiko, ob wir damit überhaupt ankommen. Da fängt der Kitzel schon an. Müssen wir aber nehmen, weil unser Familienauto keine Anhängerkupplung hat. Und wir nehmen ja immer den großen Anhänger vom Verleih. Da passt so schön viel rein.
In Essen angekommen gibt es immer einen genauen Ablaufplan, welche Halle zuerst und zu welchem Stand. Nicht einfach so Halle für Halle durchstöbern, nein, das funktioniert nicht! Zuerst muss man ja an die Stände mit die limitierten Kracher. Ob das wirklich die Kracher sind, stellt sich dann immer erst hinterher heraus (meist sind sie es nicht!), aber man muss sie halt haben. Weil sie limitiert sind. Ich wiederhole gern noch einmal das Zauberwort: limitiert! Das ist Kaufgrund Nr. 1. Man könnte ja was verpassen, wenn die schon ausverkauft sind. Danach werden alle Stände mit Give-Aways abgeklappert. Die sind besonders begehrt, weil sie nur hier zu haben sind. Meist kriegt man sie zudem auch noch umsonst. Oder auch mal gegen eine geringe Spende. Da ist man schon mal großzügig. Ist ja meist für einen guten Zweck. Welcher? Egal. Als nächstes sind alle Kleinverlage dran. Und wenn ich sage „alle“, dann meine ich „alle“. Da musste das kaufen, was später voraussichtlich nicht oder nur schwer im Handel zu bekommen ist. Und das ist voraussichtlich fast alles von diese Kleinverlage. Die Spiele von den großen Verlagen, die kriegste ja hinterher überall im Kaufhaus oder im Supermarkt. Aber die Kleinverlagsspiele, die nicht! Die musste also alle hier kaufen. Ob die besser sind als die von die großen Verlage, das ist so eine Frage. Aber erst einmal eine unerhebliche. Das brauchste halt, das von die Kleinverlage. Außerdem: Die großen Verlage, die verdienen doch sowieso genug, die Kapitalisten! Die brauchen nicht auch noch unbedingt mein Geld. Ich kaufe dann wirklich lieber bei die kleinen Verlage, auch wenn die großen Verlage zum Teil die besseren Spiele haben. Ich will ja nicht noch diesen Großkapitalismus unterstützen! Nein, das mach ich nicht! Inzwischen wundere ich mich ja jedes Mal neu, welcher Verlag sich so alles als Kleinverlag ausgibt! Haben se die halbe Messehalle gemietet, aber Kleinverlag!
Viele von die Besucher kommen ja mit so einem Gerüst von ihre Trolley. Das Kofferteil haben se abgenommen und sammeln darin im Hotel ihre Schmutzwäsche. Auf dem Trolley-Gerüst stapeln sie dann ihre gekauften Schätze. Soll ja auch jeder sehen, was für tolle Spiele die gekauft haben. Das sind die wahren Kenner, die kennen Perlen, die kennen andere gar nicht! Wir Wissenden sehen dann schon einmal die eine oder andere Graupe dazwischen. Darfste aber nicht sagen. Die sind schließlich so stolz auf ihre tolle Neuerwerbungen! Die unerfahrenen Besucher verlassen sich schon mal darauf, dass sie eine Tüte bekommen, wenn sie ein Spiel kaufen. Dann merken sie aber bald, dass die Kapazität so einer Tüte begrenzt ist. Höchstens drei große Spiele passen da rein. Und nur, wenn die Tüte groß ist. Habe ich früher auch so gemacht. Inzwischen benutze ich aber Hartschalenkoffer. Ist sozusagen der Mercedes-Benz unter den Trolleys. Rollt genauso gut, ist aber im Fall der Fälle robuster und hat mehr Durchschlagskraft. Außerdem klaut einem keiner die tollen Give-Aways. Weil se die gar nicht sehen! Schlau, was? Am besten trägt man dazu noch einen Wanderrucksack auf dem Rücken, passt auch noch was rein und es wird dann so was von ausgewichen! Die haben dann Angst um ihre falsche Zähne. Und du hast dann wirklich Platz in die Gänge! Auch wenn da noch so viel los ist. Sehr wirkungsvoll! Mit Kinderwagen ist auch eine wirkungsvolle Angelegenheit, kommt aber leider nicht so gut, wenn alle das süße Kleine anschauen möchten und sie dann ganz enttäuscht sind, wenn se im Wagen zwischen die Daunen und die Bierflaschen nur Spieleschachteln entdecken.
Schließlich sind alle Neuerwerbungen im Anhänger verstaut. Dann ist endlich Zeit für was Erholsames. Dann stellen Heinz und ich uns immer an die vollsten Stände und geben wichtige Kommentare ab. Am besten von ganz hinten aus der dritten Reihe, von wo man gar nichts mehr sieht. „Das ist der gleiche Mechanismus wie bei Spiel XY“, „Da hat uns der Prototyp schon nicht gefallen“, „Das ist eine ganz miese Grafik, die kann meine Tochter im Kindergarten schon besser“ oder „Der Autor, der hat ja sowieso nichts drauf“. Oder auch mal: „Das Spiel ist toll, das hab ich schon gespielt!“ Letzteres aber nur, wenn es eine Graupe ist. Die guten Spiele will man ja nur selbst erkannt haben und besitzen. So ist das immer bei de Spielemesse zusammen mit Nachbar Heinz. Feine Sache. Und sehr spaßig. Findet auch Heinz. Nur an seine Erstrundenniederlage beim SIEDLER-Turnier von vor zwölf Jahren darf man ihn nicht erinnern. Da ist er sehr eigen, der Heinz.
PETER SPIEL ERKLÄRT ist die Kolumne des Gastautors Peter Spiel auf REZENSIONEN FÜR MILLIONEN.
Zu Teil 5: Peter Spiel erklärt Komplexität