Wer einen Hit wie ORLÉANS im Programm hat, versucht natürlich, den Erfolg in eine never ending story zu verwandeln. ORLÉANS STORIES kommt diesem Ziel sehr nahe.
Wie geht ORLÉANS STORIES? Wir spielen ORLÉANS, nur länger. Bisweilen sogar viel länger. Aber genau das ist das Motto. In beiden enthaltenen Szenarien „Das erste Königreich“ und „Die Gunst des Königs“ durchlaufen wir mehrere Epochen. Jede Epoche folgt leicht veränderten Regeln; bestimmte Orte kommen ins Spiel, wechselnde Errungenschaften bringen Punkte.
In „Das erste Königreich“ befinden sich die Spieler nicht zwangsläufig in derselben Epoche. Jede*r steigt auf, wenn er / sie möchte und die Bedingungen erfüllt. Manche Epochen sind unattraktiver als die vorhergehenden, deshalb lässt man sich vielleicht auch mal Zeit.
In „Die Gunst des Königs“ steigen alle gleichzeitig auf. Oder – scheiden aus. Wer mehr als einmal die Bedingungen nicht erfüllen kann, spielt nicht mehr mit.
Was passiert? Was sich von Epoche zu Epoche ändert, muss in einem kleinen Heftchen nachgelesen werden. ORLÉANS STORIES erfordert, dass man sich über das, was kommt, vorinformiert. Vor allem in der ersten Partie sind wir deshalb mit Blättern und Lesen und wieder Zurückblättern beschäftigt, und das ohnehin schon stundenlange Spiel dauert noch länger.
Anders als in ORLÉANS geht es auch um Gebietskontrolle. Der Besitz von Ländereien wirkt sich in Wertungen positiv aus. Außerdem generieren die meisten Gebiete Waren. Dass ORLÉANS STORIES ausgeprägte konfrontative Elemente besitzt, zeigt sich unter anderem darin, dass wir uns gegenseitig Gebiete wegnehmen. Oder uns auch gezielt Waren vorenthalten. Deren Vorräte sind begrenzt. Und wenn ich eine bestimmte Ware benötige, aber nicht bekommen kann, zwingt mir das erhebliche Umwege auf. Besonders gemeine und folgenreiche Engpässe können im Szenario „Die Gunst des Königs“ auftreten.
Was taugt es? Mir persönlich macht es keinen Spaß, Mitspieler*innen aus dem Spiel zu kicken. Deshalb ist „Die Gunst des Königs“ nicht mein bevorzugtes Szenario. Allerdings muss man es auch nicht zwangsläufig aggressiv spielen. Und die Möglichkeit des Ausscheidens bedeutet ja nicht automatisch, dass (man) es dazu kommen (lassen) muss. Die Zielgruppe von ORLÉANS STORIES wird spätestens ab der zweiten Partie die schlimmsten Fehler vermeiden können. Und spielt man zu zweit, ist auszuscheiden sowieso nicht schlimm. Die Partie ist dann entschieden, niemand muss zugucken.
Trotzdem liegt mir „Das erste Königreich“ besser, das sich für mich auch wie das Hauptszenario anfühlt. Während „Die Gunst des Königs“ die Spieler*innen dadurch herausfordert, dass zu bestimmten knapp getakteten Zeitpunkten bestimmte Ziele erreicht werden müssen, lässt „Das erste Königreich“ mehr Freiheiten und mehr Luft zum Atmen. Dass wir phasenweise nach unterschiedlichen Regeln spielen, finde ich sehr originell.
Ein Spiel darf auch gerne mal lange dauern, jedoch sollte es dann im Verlauf auch Entwicklungen geben, die diese Dauer rechtfertigen: Dinge, die man in kürzerer Spielzeit eben nicht hätte erleben können. ORLÉANS STORIES vermittelt durchaus ein Gefühl von stetigem Aufstieg und Fortschritt. Allerdings auf dieselbe Weise wie das Grundspiel, nämlich über bessere Orte und qualifiziertere Gefolgsleute. Zudem gibt es auch immer wieder Phasen, in denen ORLÉANS STORIES rundenlang auf demselben Niveau vor sich hinplätschert.
Erst im Finale zieht die Spannungskurve noch mal an. Während des Spiels gibt es wohl einiges zu taktieren, um Epochenübergänge möglichst reibungslos hinzukriegen oder Waren elegant einzusacken, sobald sie wieder im Markt verfügbar sind. Doch Dilemmata empfinde ich nicht. Ich hatte nicht den Eindruck, individuellere Wege gehen zu können als im Original-ORLÉANS. Denn auch durch die unattraktiveren Epochen muss ich irgendwann durch; das Spiel verlangt es schlichtweg.
Um zu gewinnen, müssen wir 34 Teilziele abhaken. Die meisten dieser Ziele erreicht man durch Fortschritte auf der Punkteskala. Manchmal vergehen allerdings Minuten, bis mal wieder ein Kreuzchen gemacht werden darf. Auf der Packung ist eine Maximalspieldauer von 180 Minuten angegeben; meine Runden haben es nie in unter vier Stunden geschafft.
Spannende Fragen während des Spiels sind zum Beispiel, welche Ländereien und Ortsplättchen ich ergattern möchte und welche Orte gut zu meinem Figurenarsenal und den Landschaften rings um mein Startfeld passen. Knifflig ist auch immer wieder die Abwägung, wie ich meine gezogenen Chips einsetze oder überhaupt meinen Figurenbeutel bestücken möchte. Allerdings (und auf die Gefahr, dass ich mich wiederhole): Diese Reize beinhaltete größtenteils auch schon das ORLÉANS aus dem Jahr 2014.
Weil die ORLÉANS-Grundsubstanz so gut ist, empfinde ich auch ORLÉANS STORIES als spielenswert. Den Mehrwert gegenüber ORLÉANS sehe ich aber als gering an. Das mag sich ändern, falls ORLÉANS STORIES durch weitere Szenarien eines Tages zur großen Spielesammlung ausgebaut wird. (Auf der Homepage von dlp wird bereits eine dritte Story zum Download angeboten, ich habe sie allerdings nicht ausprobiert.)
Um ORLÉANS STORIES eine wirklich große Geschichte werden zu lassen, müsste auch noch an der Anleitung gefeilt werden. Die Heftchen, die wir während des Spiels bekommen, finde ich gut und übersichtlich gemacht. Dennoch muss man sich vor dem Losspielen zu viele Informationen an verschiedenen Stellen zusammensuchen.
**** solide
ORLÉANS STORIES von Reiner Stockhausen für zwei bis vier Spieler*innen, dlp games.