Ich konnte rechnen, deshalb war mir bewusst, dass es zur Deckung meines Lebensunterhalts langfristig nicht genügen würde, ab und zu die Spieleseite einer kleinen Tageszeitung zu befüllen und hobbymäßig für die Fairplay zu schreiben. Nachdem sich zuvor bereits herausgestellt hatte, dass ich zu einseitig interessiert war, um einer glücklichen Karriere als Lokaljournalist entgegenzusehen, konnte man es wohl als Wink des Schicksals deuten, dass tatsächlich zum allerersten Mal nach meinem Referendariat eine Stelle für genau meine Fächerkombination ausgeschrieben wurde: Geschichte und Deutsch.
Ich weiß nicht, wie die Stellensituation heute ist. Damals wurden pro Jahr zehn bis 15 Stellen in ganz Niedersachsen angeboten, die meisten davon im Wend-, Ems- oder Niemandsland und einige auch nur als halbe oder Feuerwehrstelle. Dass die Geschichte-plus-Deutsch-Schule in einer Dreiviertelstunde von Hannover aus erreichbar war, glich also einem Wunder. Ich erkannte die Zeichen am Himmel und bewarb mich und landete prompt in der engsten Auswahl von drei Personen.
In der Annahme, das mache man so, verabredete ich mich mit dem Schulleiter, um ihn und meine künftige Wirkungsstätte kennenzulernen. Der Eindruck war ernüchternd. Die Bildungsanstalt war eine niedrige, dunkle Betongrotte, der Schulleiter hatte einen derartigen Mundgeruch, dass sich die schlechte Luft bereits in jeden Winkel seines weitläufigen Rektorenzimmers verbreitet hatte und ich ihr rettungslos ausgesetzt war.
Zu meiner Überraschung erfuhr ich, dass die Schule in Wirklichkeit niemanden für Geschichte und Deutsch suchte, sondern – ätschibätsch – für das Fach Arbeit und Wirtschaft. Sie hätten das absichtlich nicht in der Ausschreibung erwähnt, erklärte der Rektor augenzwinkernd, weil das niemand studiere und sich dann auch niemand bewerbe.
Ach so. Was mich anging, lag er damit auf jeden Fall richtig. Arbeit und Wirtschaft war mir völlig fremd. Um mich gedanklich darauf einstellen zu können, was ich sehr bald unterrichten sollte, bat ich um einen Stoffverteilungsplan – aber bekam keinen mit der interessanten Begründung, die Schule dürfe mir keinen Vorteil gegenüber den anderen Bewerber*innen verschaffen. Und auch meine Bitte um eine Schulführung war wohl zu offensiv. Es klingele gleich zur großen Pause, bedeutete man mir. Da könne ich rumgehen und in die Klassenräume gucken.
Es klingelte zur großen Pause, ich ging rum, guckt ungefähr zwei Minuten in die Klassenräume, kam mir doof vor, fuhr nach Hause und wusste: An diese Schule mit diesem Rektor gehe ich NICHT! Die Frage war nur: Sollte ich das blöde Bewerbungsgespräch bei der Bezirksregierung noch machen oder sofort absagen? Ich entschied mich für: machen. Einfach mal um zu sehen, wie das so ist. Und es war … einprägsam.
Auch bei der Bezirksregierung erlebte ich originelle Überraschungen. Die erste: Die Frau von der Regierung war dieselbe Person, die an der Schule, in der ich mein Referendariat gemacht hatte, kurz vor meiner Zeit Schulleiterin gewesen war. Während meiner eineinhalb Jahre dort hatte ich ausschließlich Verächtliches über sie gehört. Vor allem hasste man sie wegen einer Affäre mit einem verheirateten Lehrer aus dem Kollegium, dessen Frau ebenfalls Lehrerin des Kollegiums war. Auch die pädagogischen Ideen und Leitungsqualitäten der Rektorin hatten wohl keinen so richtig mitgerissen, und so waren alle froh, als sie sich bald nach oben bewarb und nach kurzem Intermezzo wieder verschwand. Ob das alles so stimmte, weiß ich natürlich nicht. Trotzdem erstaunte mich die Reaktion der Beamtin, als sie feststellte, dass ich an derselben Schule gewesen war wie sie: Sie war begeistert! Sie jubilierte! Sie schwelgte, dort habe sie eine sooo schöne Zeit verbracht! Und ich hätte es sicher auch toll gefunden, nicht wahr?
Überraschung Nummer zwei: In dem Raum saßen drei Personen, nach meiner Überschlagsrechnung eine zu viel. Da war die Frau von der Regierung. Der Schulleiter mit dem schlechten Atem. Und noch ein anderer Schulleiter. Die Beamtin jubelte nämlich gleich weiter. Sie kündigte an, das sei heute für mich wie ein Jackpot im Lotto. Unter den drei Bewerber*innen hätte ich die beste Note, eine der Bewerbungen sei überdies zurückgezogen worden, und zusätzlich sei hier noch ein Rektor mit einer weiteren freien Stelle. Luxussituation: Beide Schulen würden sich um mich reißen. Ich könne zwischen zwei Vollzeitstellen wählen!
Es gab aber auch eine andere Sichtweise. Meine. Direktor Nummer zwei fand ich zwar viel sympathischer als die Nummer eins. Aber seine Schule war irgendwo im Outback, ich müsste aus der Stadt aufs Land ziehen. Die Schulform entsprach nicht meiner Ausbildung und für die Fächer, die ich dort unterrichten sollte, wies ich keinerlei Begabung auf. Ziemlich schnell kriegten der nette Mensch und ich heraus, dass wir leider nicht ins Geschäft kommen würden.
Mit dem nicht so netten Menschen wollte ich auch nicht ins Geschäft kommen, aber das mochte ich so offen nicht sagen, schließlich musste ich einen Grund für meine Anwesenheit vortäuschen. Das Spiel, das wir nun spielten, war ein Verhandlungsspiel. Eins von den knallharten: Ich gebe dir den Jackpot – was gibst du mir? Ich weiß, du bist auf meine Fürsprache angewiesen – was kann ich aus dir rauspressen? Mit den richtigen Beteiligten hätte das reizvoll sein können. Aber an diesem Morgen geschah das, was man bei Spielen oft erlebt, wenn einer ohne den nötigen Ehrgeiz am Tisch sitzt und gar nicht gewinnen will: Die Partie kommt nicht richtig in Gang, der Spielverderber macht den anderen den Spaß kaputt.
Ich wurde gefragt, ob ich außer Arbeit und Wirtschaft auch Sport unterrichten könne, da hätten sie einen Mangel. Und ich sagte: Nein, ganz bestimmt nicht. Ich hielte es für gefährlich und fahrlässig, wenn jemand ohne jede Ausbildung Sport unterrichtet.
Man sagte, in meiner Bewerbung hätte ich Jugendliteratur als Interessengebiet angegeben. Das sei ja ganz hervorragend, denn die Schulbücherei liege seit Jahren brach. Wie wäre es, wenn ich die wieder aufbaue? Ich sagte, perspektivisch wäre das denkbar, es aber für sofort verbindlich zuzusagen, hielte ich für unrealistisch. Ich sei Berufsanfänger, ich sei Pendler, ich solle fachfremd unterrichten. Mehr würde mir für den Einstieg nicht zutrauen.
Ich fand meine Antworten schlichtweg ehrlich. Andere fanden sie offenbar faul. Ins Gesprächsprotokoll, das mir aus Transparenzgründen vorgelesen wurde, hatte die Regierungsfrau geschrieben: „Herr Bartsch möchte mit zusätzlichen Arbeiten nicht belastet werden.“ Der nette der beiden Rektoren protestierte, das hätte ich doch gar nicht so gesagt. Und ich fand auch, dass ich das so nicht gesagt hatte, trotzdem gefiel mir die Subtilität dieser Formulierung sehr.
Zum Abschied sagten sie, sie würden sich bei mir melden. Aber sie meldeten sich nie. Nicht mal eine Absage war ich ihnen wert. Und so endete meine Schullaufbahn endgültig. Ich fragte mich nur: Zu was hatte sich die unbekannte arme Sau verpflichtet, der es gelungen war, mir den größten Jackpot aller Zeiten auf der Zielgeraden noch zu entreißen?