In den vergangenen Jahren habe ich viel Gemecker vernommen – möglicherweise sogar aus meinem eigenen Munde –, Themen wie Mittelalter, Renaissance oder Städtebau seien übergestülpt und austauschbar, und man solle sich bitte mal was anderes ausdenken.
Tatsächlich beobachte ich mittlerweile, dass man sich was anderes ausdenkt. Wodurch es leider kein bisschen weniger übergestülpt und austauschbar wirkt. Und unter Mittelalter, Renaissance oder Städtebau konnte ich mir wenigstens etwas vorstellen. Wenn ich dagegen in LIVING FOREST erfahre, dass der Geweihte Baum des Waldes von den Flammen des Onibi bedroht wird und ich Sanki, den alterwürdigen Wächter erwecken soll, denke ich ein sehr gedehntes „Ääääääh!?“ Zumal der Geweihte Baum nicht mal mitspielt, sondern nur anzeigt, wer beginnt.
Wie geht LIVING FOREST? Es gilt, möglichst schnell eine von drei Siegbedingungen zu erreichen: a) Ich habe zwölf Flammen gelöscht, b) ich besitze zwölf verschiedene Bäume, c) ich habe zwölf Lotusblüten ausliegen.
Der Hauptmechanismus erinnert an MYSTIC VALE: Wir besitzen zu Beginn dieselben 14 Tierkarten und decken solange auf, bis zwei schwarze Symbole erscheinen. Ich darf sogar weiter aufdecken; erst beim dritten schwarzen Symbol ist definitiv Schluss. Höre ich vor dem dritten auf, darf ich im Anschluss zwei verschiedene Aktionen durchführen. Sonst kriege ich nur eine Aktion.
Die Stärke der Aktion wiederum hängt davon ab, welche und wie viele Punkte auf meinen aufgedeckten Karten abgebildet sind. Mit Sonnenpunkten darf ich zusätzliche Karten in mein Deck kaufen, die zum Teil viel tollere Eigenschaften mitbringen als meine Startkarten. Mit Baumpunkten kaufe ich mir ein Baumplättchen, das ich angrenzend auf mein Tableau pflanze. Bäume bringen mir Permanentvorteile, zum Beispiel Sonnenpunkte, die ich fortan bei jeder Kaufaktion einsetzen darf. Oder dauerhafte Lotusblüten. Die Positionierung der Bäume – zum Beispiel drei in einer Senkrechten – kann weitere Vorteile freischalten.
Mit Wasserpunkten lösche ich Flammen, sofern denn welche da sind. Und mit Laufpunkten bewege ich meine Figur auf einem Rundkurs voran. Das hat zwei Vorteile: Das Feld, auf dem ich ende, gibt mir einen Bonus, in Bestfall eine Bonusaktion. Überspringe ich eine fremde Figur, nehme ich deren Besitzer:in einen Siegpunkt weg. Entweder einen Flammen-, einen Baum- oder einen Lotusblüten-Siegpunkt. Wir besitzen nämlich pro Sorte jeweils einen mobilen Siegpunkt, den wir einander abjagen können.
Mein Besitzstand an Bäumen und gelöschten Flammen vermehrt sich während der Partie. Bei den Lotusblüten kann es ein munteres Auf und Ab geben. Denn es zählen immer alle sichtbaren: also die mobilen, die auf meinem Bäumen und meinem Tableau sowie alle, die auf meinen aktuell aufgedeckten Karten zum Vorschein gekommen sind. Es kann dann auch Glück sein, ob ich jemals zwölf aufgedeckt bekomme, oder – obwohl genug im Deck wären – mehrfach knapp daran scheitere.
Was passiert? Obwohl ich bis zu dieser Stelle schon ungewöhnlich viele Regeln erklären musste, bereiten die Abläufe von LIVING FOREST kaum Schwierigkeiten: Karten aufdecken, aufdecken, aufdecken, zocken oder nicht zocken, eine oder zwei Aktionen ausführen, fertig. Und wieder von vorn.
Intuitiv will man erst mal viele Karten kaufen, um in Zukunft von allen möglichen Punktesorten mehr aufbieten zu können. Jeder Kartenkauf bringt am Ende der Runde aber auch ein Feuerplättchen ins Spiel. Das hilft denen, die sich über Bäume oder Tierkarten mit Wasserpunkten ausgestattet haben. Sie können schnell viele dieser Feuer weglöschen und damit womöglich das Spiel gewinnen. Obendrein ist Feuer gefährlich: Lodert am Ende der Runde noch welches, bekommen alle, die nicht genügend Wasserpunkte zur Verteidigung aufbieten können, als Strafe Feuerwaran-Karten ins Deck, die weitere der schwarzen Symbole mitbringen, also extrem stören.
Gegen Neulinge ist die Feuerlösch-Strategie so effektiv, dass sich schnell der Glaube einbürgern kann, diese Methode sei die stärkste. Tatsächlich sind alle drei Wege aussichtsreich. Und man kann auch während der Partie noch umschwenken.
LIVING FOREST ist sehr interaktiv, und dies auf eine angenehm unaufdringliche Weise. Obwohl wir unsere Karten zum Teil simultan aufdecken und ich mit meinem eigenen Kartendeck und meinem eigenen Baumtableau agiere, lese ich permanent das Spiel der anderen und reagiere darauf. Sogar die Entscheidung, auf welche Siegbedingung ich hinarbeite, kann sich erst daraus ergeben.
LIVING FOREST funktioniert wie ein Ökosystem. Indem wir auf dieses System einwirken, verändert es sich mit Folgen für uns alle. Kaufen wir viele Karten, folgt viel Feuer. Sind wir mit dem Löschen beschäftigt und kommen deshalb nicht mehr zum Kartenkauf, bleibt plötzlich auch das Feuer weg.
Gerade mit der Bedrohung des Feuers lässt sich sehr gut spielen. Wenn sich die Konkurrenz darauf verlässt, dass ich das Feuer schon löschen werde, kann ich das verweigern oder nur teilweise löschen, passgenau so, dass es anderen Warane zuschanzt, mir aber nicht. Oder meine Passivität nötigt andere, zur Waranvermeidung eine Löschaktion zu machen statt der eigentlich angestrebten.
Was taugt es? LIVING FOREST ist toll verzahnt, sehr spannend und erstaunlich variabel. Man muss sich nicht mal vornehmen, beim nächsten Mal anders zu spielen. Der Zufall, in welcher Reihenfolge ich meine Tierkarten aufdecke und welche Tiere im Markt verfügbar sind, schafft ganz automatisch andere Bedingungen und andere Verläufe.
Das Spiel hat einen gut abgestimmten Glücksfaktor, ohne den es längst nicht so intensiv wäre. Im Wesentlichen kommt es auf Taktik und Strategie an. Aber es passieren Dinge, die außerhalb meiner Kontrolle sind, ich kann mich verzocken, manchmal muss ich gar zocken. Weil das Spiel im Regelfall nur sieben bis zehn Runden dauert und recht aufbauintensiv ist, liegt es ohnehin nahe, gleich noch eine Revanche zu spielen.
Nur zwei Kleinigkeiten stören mich: 1. Auf dem Baumtableau wiederholt sich die gewählte Anordnung auf Dauer doch. Ich belege mittlerweile fast immer dieselben Felder in fast immer derselben Reihenfolge. 2. In der ersten Runde kann es schlecht sein, an Position vier zu sitzen. Oft sind dann gar keine zwei sinnvollen Aktionen mehr möglich, weil alle billigen Karten weggekauft sind und das Feuer auch schon gelöscht wurde. Mit zunehmender Erfahrung wird man hier häufiger einfach bis zum dritten schwarzen Symbol ziehen, weil man sowieso nur eine Aktion brauchen kann. Aber Spielanfänger:innen wissen das noch nicht und fallen herein.
Sehr viele zusammengemixte Mechanismen lassen in LIVING FOREST etwas Neuartiges entstehen, das sich auch nach vielen Partien immer noch frisch anfühlt und neugierig auf mehr macht. Und Themen, das wissen wir von Mittelalter, Renaissance und Städtebau, werden ja sowieso überschätzt.
****** außerordentlich
LIVING FOREST von Aske Christiansen für zwei bis vier Spieler:innen, Pegasus Spiele.